Einst lebte in den Wäldern von Neachas ein Jäger mit Namen Melech.
Stark war sein Wuchs, scharf war sein Blick und sicher war sein Griff. Ein guter Jäger war er, voll des Repekts vor den
Tieren des Waldes und den Gewalten der Natur. Er wusste um die Bedeutungslosigkeit seines bescheidenen Daseins im
gewaltigen Spiel des Lebens und niemals tötete er unnötig oder grausam, niemals maßte er sich an, stärker, mächtiger oder
wichtiger zu sein als die wilden Kräfte der Natur, dennoch wusste er wohl zu sagen, wo sein Platz war, wusste dass es
Dinge und Wesen gab, die ihm überlegen waren, aber auch, dass es solche gab, denen er überlegen war.
Auch wenn er ein guter Jäger war, so waren seine Jagdzüge keineswegs immer von Erfolg gekrönt.
Und so stieß er bei seinen Streifzügen auf die Fährte eines prächtigen und stattlichen Hirsches. Melech war gebannt von
dieser Fährte und dem Tier von außerordentlicher Schönheit und Anmut, das die Spuren verhießen.
Schon lange hatte er keine Beute mehr gemacht und der Hunger nagte an ihm. So folgte er der Spur hoffnungsvoll und sah
schließlich auf einer Lichtung einen Hirschen von außergewöhnlicher Pracht äsen. Golden schimmerte sein ausladendes
Geweih und sein Fell glänzte kupfern über den strammen Muskeln und Sehnen des kräftigen Körpers.
Melech war gebannt von der Schönheit und Anmut des Hirsches und er konnte sich nicht satt sehen an diesem Anblick.
Doch nicht nur seine Augen hungerten, auch sein Bauch und die Bäuche seiner Familie und so zog er einen Pfeil aus
seinem Köcher, spannte den Bogen und zielte auf das Herz des Hirsches.
Da hob der Hirsch den Kopf und blickte den Jäger aus tiefschwarzen Augen an, unergründlich wie die Nacht und wissend wie
die Sterne. Und der Hirsch sprach: „Bitte, töte mich nicht!“
Doch Melech sagte: „Warum sollte ich dich nicht töten? Ich und die meinen, uns hungert, du bist meine Beute, ich habe
dich aufgespürt und gestellt und nun die Gelegenheit, dich zu schießen, damit dein Fleisch uns nähre. So ist nun mal der
Lauf der Dinge. Morgen mag mich ein Parder erwischen und mein Fleisch mag die seinen nähren, doch heute bin ich es, der
in der stärkeren Position ist, also finde dich damit ab.“
„Warte“ rief der Hirsch. „Wenn du mich am Leben lässt, so sollst du dafür belohnt werden. Pfeile, die dein Bogen
verschießt, sollen immer ein Ziel finden und immer töten und dir und den deinen genügend Beute bescheren. Wenn du mich
nur nicht tötest.“
Da lachte Melech auf „Pah! Nichts als leere Versprechungen! Wer bist denn du, dass du die Macht haben willst, meinen
Bogen derartig zu verhexen? Wenn du dies könntest, so würde ich mit Freuden auf deinen Handel eingehen, doch ich lache
nur über deinen ärmlichen Versuch, mich zu bestechen!“
Da antwortete der Hirsch: „Wer ich bin, willst du wissen? Macht sprichst du mir ab? Dann siehe!“
Und der Hirsch enthüllte seine wahre Gestalt – er war der Herr des Waldes. Ein Gott, dessen Namen man heute nicht mehr
ausspricht.
„Siehe, dies ist meine wahre Gestalt und meine Macht vermag, deinen Bogen zu verhexen, so dass ein jeder Pfeil ein Ziel
finde und die Beute tödlich treffe. Obwohl du gezweifelt und mich verhöhnt hast, werde ich mein Versprechen einlösen.
Wir Götter sind voller Ehre und halten unsere Versprechen.“
Der Gott schritt auf Melech zu und strich über dessen Bogen. Dann erhob sich brausend ein Wirbelsturm im Walde und trug
den Gott unter Gelächter über die Baumkronen hinweg in die Wolken hinauf.
Melech ärgerte sich, und andererseits war er auch erleichtert. Er hatte keine Beute gemacht, aber einem Gott keinen
Schaden zugefügt. Dennoch glaubte er kein Wort von dem, was der Gott über Melechs Bogen gesagt hatte, denn Melech wusste,
die Götter sind launisch und selbstsüchtig – niemals würden sie einem einfachen Menschen derartig ihre Gunst erweisen.
Melech fühlte sich vielmehr verhöhnt. Dennoch hegte er die Hoffnung, der Gott möge vielleicht wahr gesprochen haben. Und
so setzte er seine Pirsch fort – was er ohnehin hätte tun müssen, schließlich hatte er noch nichts erlegt.
Und als ihm ein Hase über den Weg lief, legte der Jäger einen Pfeil auf den Bogen, gab sich keine große Mühe beim Zielen
und ließ den Pfeil fliegen. Mit tödlicher Sicherheit traf der Pfeil den Hasen und spießte ihn auf.
Unschlüssig, ob dies nur ein Zufall war, begann Melech nun die Fähigkeiten des Bogens zu erproben. Er schoss blind in
einen Baumwipfel und herunter fiel ein fetter Affe, vom Pfeil tödlich verwundet. Langsam glaubte Melech, der Gott hatte
tatsächlich wahr gesprochen und er war nun voll des Glücks, denn es sollte ihm das Jagdglück immer hold bleiben und die
seinen würden niemals mehr Hunger leiden.
Melech schoss blind vier Pfeile nach allen Himmelsrichtungen in den Wald hinein. Dann folgte er dem ersten Pfeil, um
nachzusehen, welche Beute er diesmal erlegt hatte. Und alsbald fand er ein Reh vom Pfeil getroffen. Seine Beute
geschultert machte Melech sich auf die Suche nach den drei anderen Pfeilen, doch im Dickicht des Waldes fand er keinen
seiner Pfeile wieder und er fand auch kein erlegtes Tier.
„Naja“ dachte sich Melech „nicht weiter schlimm. Die Aasfresser werden sich wohl freuen über die drei erlegten Tiere,
die ich nun nicht fand.“
Da er bereits reiche Beute gemacht hatte, machte er sich nun auf den Weg zurück zu seinem Heim.
Als er sein Haus erreicht hatte fand er dort seine Familie vor – seine Frau, sein Sohn, seine Tochter, alle drei tot,
durchbohrt von drei Pfeilen. Den drei Pfeilen, die Melech zuvor blind in den Wald hineingeschossen hatte. Da sich den
Pfeilen kein Ziel in den Weg gestellt hatte, waren sie so lange geflogen, bis sie ein Ziel gefunden.
Melech schrie auf vor Schmerz und Wut und Trauer und er verfluchte den Gott, dessen Geschenk so viel Unglück über ihn
gebracht hatte. Melech schritt zu der Lichtung, wo er vorher dem Gott als Hirschen begegnet war und unterwegs stieß er
Flüche und Verwünschungen aus. „Oh ihr Götter, die ihr in den Wolken sitzt und über die Geschicke der Menschen wachen
solltet, warum bereitet es euch nur so viel Vergnügen, Leid und Verzweiflung zu streuen. Ihr sonnt euch in eurer Macht
und glaubt, niemand könne euch etwas anhaben, ihr treibt eure Spielchen mit uns und lacht euch ins Fäustchen ob unserer
Leiden. Oh du Herr des Waldes, der mir dieses Geschenk gemacht, sei verflucht! Deine Macht soll vergehen und niemand soll
sich deines Namens erinnern! Mögest du vergehen und nie mehr deine grausigen Späße treiben können!“
Und unter Tränen hob Melech den Bogen, legte seinen letzten Pfeil auf und schoss diesen hinauf in die Wolken.
Da ertönte ein markerschütternder Schrei aus dem Himmel und der Gott stürzte hinunter, den Pfeil im Hals steckend und
tödlich getroffen. Mit Donnerhall und bebender Erde schlug der Gott auf dem Boden auf und eine gewaltige Staubwolke
verdüsterte den Himmel.
Und Melech trat hin zum gestürzten Gott und spuckte ihm ins Gesicht und er sprach „Seht, ihr anderen Götter, was ihr für
eure überheblichen Spiele, die ihr mit uns treibt, bekommt. Zwiespältige Geschenke wie ihr sie zu machen pflegt, mögen
sich auch gegen den Schenker richten!“
Und er schritt davon und er versenkte den Bogen im Moor, auf dass niemand weiteres Opfer der tödlichen Macht des Bogens
werde und fortan war er kein Jäger mehr und er tötete nie wieder.
(me)
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